Samstag, 6. Januar 2018

Christa Meves: Adipositas bei Kindern Folge von Bindungsstörungen

Christa Meves

Am 29. Dezember 2017 gab die Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgende Meldung heraus, die von der öffentlich-rechtlichen ARD in der Tagesschau übernommen wurde: "Jedes 14. Mädchen in Deutschland ist fettleibig - und sogar jeder 9. Junge. Die WHO fordere deswegen klarere Beschränkungen für Süßigkeiten und Junk-food-Werbung. Die freiwillige Selbstkontrolle funktioniere nicht."

Das ist nun allerdings eine viel zu späte Erkenntnis. Und es lässt sich voraussagen, dass auch der neue Schrei nach Werbungsbeschränkung für Süßigkeiten im Hinblick auf eine weitere Zunahme der Fettleibigkeit bei Kindern wirkungslos bleiben wird. Denn das Problem ist ebenso alt wie all die falschen Ansätze, um die Adipositas (Fettsucht) in der westlichen Menschheit zu bewältigen.
Die Meldung gibt über die Ausbreitung des Phänomens nun sogar einigen Einblick: 1980 waren es bei den Jungen nur 4% gewesen. Bis zu 2017 hatte sich diese Zahl also mehr als verdoppelt. Interessant sind auch die internationalen Statistiken über fettleibige Jungen, z.B. in den USA 23,3% und Indien 2,4%!

Diese Meldung ist allerdings in sich unzureichend, da die Altersangaben fehlen und unverständlicherweise die noch viel höheren Vergleichszahlen für die Mädchen ebenso. Dennoch ist die Eröffnung dieses gesundheitlichen Desasters, speziell in der westlichen Welt, immerhin das Eingeständnis eines jahrzehntelangen Versäumnisses der Beachtung dieses internationalen Phänomens. Eins ist gewiss: Die Kinder nehmen vom Kleinkindalter ab zu viele hochkalorische Nahrung zu sich, und zwar nicht erst allein, seit sie selbst in der Lage sind, mehr oder weniger heimlich Süßigkeiten zu ergattern: Es beginnt bereits im frühen Kindesalter, und deshalb hat sich über Jahrzehnte hinweg die Vorstellung verfestigen können, dass es sich dann in diesen Fällen allemal um eine genetisch bedingte Disposition zur Fettleibigkeit handle. Sogar ein Forschungsprojekt eines Instituts in Hessen gab diese Vorstellung als ihr Endergebnis bekannt. Man hatte eine Gruppe von übergewichtigen Grundschulkindern zu einem mehrwöchigen stationären klinischen Aufenthalt eingeladen und eine Zeitlang mit viel Ballaststoffen ernährt. Das Ergebnis: Relevante Gewichtsabnahmen waren nicht zu verzeichnen. Ein damit nicht zufriedenes Elternpaar war aber danach mit ihrer adipösen Tochter, die darüber tief unglücklich war, zur Beratung bei mir angereist. Und dieses Mädchen verriet mir - nachdem wir uns einige Stunden lang miteinander vertraut gemacht hatten - ein Geheimnis: Dass ALLE diese Kinder (auch sie selbst) sich täglich neu Süßigkeiten ergattert und heimlich vernascht hätten! "Da ist man eben so drin", sagte dieses Kind, "es geht eben gar nicht mehr anders." Aber diese Wahrheit war gar nicht in die Mutmaßungen der Forscher vorgedrungen!

Nun, diese Geschichte ist mehr als zwanzig Jahre her. Sie lässt sich in der Praxis aber immer neu bestätigen. Mittlerweile gibt es sogar therapeutische Spezialinstitute, die ihre langfristige therapeutische Unwirksamkeit eingestehen: Sie erreichen zwar bei den meist bereitwilligen Patienten beiderlei Geschlechts mit gekonnter Methode zunächst eine erhebliche Gewichtsabnahme während des stationären Aufenthalts; aber nach der Rückkehr in den Alltag beklagen die Patienten einige Wochen später einen sie selbst beschämenden Rückfall fundamentaler Art: Sie schaffen es nicht auf die Dauer, ihre unbändige orale Lust - besonders auf Süßes - zu bezähmen!

Spätestens aus solchen Ergebnissen müsste nun aber allgemein in Fachkreisen die Erkenntnis heranreifen, dass im Hinblick auf die Adipositas die Berechtigung vorhanden ist von einer "FettSUCHT" im wahrsten Sinne dieses Wortes zu sprechen. Denn nicht nur naschsüchtige Kinder, sondern auch Halbwüchsige mit anderen oralen Ersatzobjekten wie Alkohol, Zigaretten und Rauschgiften büßen durch maßlose Gewöhnungen daran die Fähigkeit ein, davon wieder zu lassen. Die Fachwelt müsste aufgrund dieser Erfahrungen aber nun endlich erkennen: Diese epidemische Zunahme der Adipositas in den westlichen Nationen bedarf zwar als Voraussetzung eines gewissen Wohlstands als Grundlage, aber die eigentliche Ursache liegt tiefer: Sie beruht - wie bei allen Süchten - auf einem unbewussten, nicht zu bändigenden mächtigen Bedürfnis ihrer Seele!

Bei der Adipositas handelt es sich meist um unser aller Urbedürfnis am Lebensanfang: durch Einverleibung von natürlicher, vom Säugling unbewusst erwarteter Nahrung in einer zufriedenstellenden Weise satt, zufrieden und glücklich zu werden! Den Hinweis, dass ein orales Defizit (von OS= lateinisch "der Mund" abgeleitet) die Ursache späterer seelischer Störungen sein könne, hat bereits Sigmund Freud vor mehr als einem Jahrhundert gegeben, und eine seiner Schulen hat das besonders für die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie nutzbar gemacht, wie z.B. die neoanalytische Schule mit Annemarie Dührssen, Werner Schwidder und Fritz Riemann. Wir wissen also bereits aus dem vorigen Jahrhundert, dass sich aus den unnatürlichen, nicht befriedigten Sättigungs- und Bindungserlebnissen des Säuglings und Kleinkindes seelische Defizite in das Gehirn einprägen. Dadurch können sich charakterliche Unausgeglichenheiten und in übelsten Fällen lähmende orale Süchte entwickeln. Dieses Erfahrungswissen ist nun heute sogar durch die neue Hirnforschung untermauert worden!

Als in den sechziger Jahren der familienfeindliche Trend losbrach, konnte ich deshalb voraussagen, dass sowohl seelische Verwahrlosung als auch Essstörungen in epidemischen Ausmaßen entstehen würden. Diese Störungen bekommen zwar durch die Verschiedenartigkeiten der Umwelt eine spezielle Färbung, aber sie haben letztlich eine ganz eindeutige seelische Ursache: eine in sie eingeprägte unbewusste fundamentale Unzufriedenheit! Diese wurzelt sehr oft in einer obligatorischen, aber dennoch unzureichend durchgeführten Nähe des Neugeborenen zu seiner Mutter in seinen ersten drei Lebensjahren! Am besten geschieht das mithilfe der leiblichen Nähe und einer natürlichen Fütterungsweise eben durch die Frau, die dieses Kind geboren hat. Wer dieses Urmodell mit seinem Kleinkind als Mutter durchhält, erntet reife Frucht: Naschsüchtigkeit bleibt ebenso aus wie quengelndes Suchverhalten nach allem und jedem und als Folge davon dann unruhiger Unkonzentriertheit schon in der Grundschule!

Der Mensch ist ein in die Natur eingebettetes Wesen. Diese Natur hohnlachend durch angemaßte Künstlichkeiten oder Schreinächte allein im Dunkeln zu ersetzen, bewirkt grundsätzlich auf der ganzen Linie, dass sich die gesamte Gesellschaft schließlich elende oral getönte Süchte einhandelt! Durch Überforderung der Gesundheitssysteme wächst so auf die Dauer unweigerlich Niedergang; denn nur allzu leicht entsteht im Heranwachsenden dann aufgrund endloser negativer Erfahrungen mit dem eigenen Unzureichendsein schließlich ein resignierter Charakter und im übelsten Fall eine dann nur noch schwer löschbare Depression! WHO: Heute ist jeder dritte Europäer in dieser Weise angefochten!!! Einer der Großmacht Natur trotzendes Verhalten der eben beschriebenen Art erweist sich damit als eine ihrem Schöpfer gegenüber ungehorsame Grenzüberschreitung! Wir brauchen also ganz dringend neue gesellschaftliche Maßnahmen, die es den Müttern ermöglichen, zunächst bei ihren Winzlingen zu bleiben, bis diese Kleinkinder Gemeinschaft mit Gleichaltrigen überhaupt ertragen können! (Realisierbare Modelle dafür sind längst vorhanden.) Um seelisch zu gesunden, brauchen wir also auch im Hinblick auf die Ökologie des Menschen in später Stunde eine Umkehr, die den Urbedürfnissen der Kleinkinder gerecht wird! Ein gott-gehorsames "retour à la nature" also! Denn trotz all seiner Geduld, lässt Gott seiner dennoch gewiss nicht endlos spotten!